Philosophie als Lebenspraxis und Kunst zu leben
Impuls
Die Philosophie als Lebenspraxis überlebte auch im Mittelalter, als meditative Praxis in Klöstern oder im Gewand der Mystik: Meister Eckhart, Tauler usw. In der Renaissance bildete Montaigne eine neue Erscheinung eines Philosophen. Ihm ging es nicht um eine Belehrung, sondern um eine Klärung des Lebens. Von nun an galt es, zu bedenken, wie man lebt. Im 17. Jahrhundert traten die französischen Moralisten auf, Philosophen, die über das Wesen des Menschen nachgedacht, sich als Menschenkenner verstanden haben, und Fragen der Lebensführung thematisierten.
Außerakademische Philosophen sind auch Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche gewesen, die der Meinung waren, das Philosophie dem Leben zu dienen hätte.
Im 20. Jahrhundert schließlich waren es Franz Rosenzweig, der späte Wittgenstein, Pierre Hadot und der späte Foucault, die an die Tradition der Philosophie als Lebenspraxis anknüpften.
An die genannten und an viele andere Gestalten schließt sich die Philosophische Praxis an. Nicht um zu belehren, denn die Zeiten sind (gottseidank) vorbei, um gar verbindlich sagen zu wollen, was es heißen könnte, richtig zu leben.
Wie ist dann ein praktisch werden der Philosophie aber möglich? Als heilsame Kritik, die sich um ein verstehen und ein verstanden werden bemüht. Dem Gast der Philosophischen Praxis wird nicht gesagt, wie er zu leben habe, sondern mit sich und seiner Weise zu leben bekannt gemacht. Seine Probleme, Sorgen, Nöte, Leiden, Desinteresse, Hemmungen, Ängste werden mit einer Intensität weitergedacht und damit verwandelt. Meinungen werden überprüft, andere Gedanken, Perspektiven, Orientierungen, Haltungen erörtert. Deuten und aufklären stehen im Vordergrund.
In die Philosophische Praxis kommen Menschen, die in Geschichten verstrickt sind und darin nicht weiterkommen, die nicht weiter wissen, nicht zurechtkommen. Philosophische Ostern kommen auch erst nach dem Karfreitag. Daher gewinnt der Mensch seine Wahrheit nur, wenn er sich in seiner Zerrissenheit selbst findet. Wenn er dem Negativen ins Auge schaut, bei ihm verweilt, dann kann dieses Verweilen die Zauberkraft sein, die es umkehrt.
Als Grundsatz gilt: Die Sache der Philosophie kann es nicht sein, die Lösungen leichter, sondern die Aufgaben schwerer zu machen. Mit diesem Grundsatz macht es sich die Philosophische Praxis selbst schwer, wird sich selbst zum ethischen Problem.
Als Grundregel gilt: Weiterdenken, wo die Kraft des Denkens lahm wurde, oder sich in trügerische Sicherheiten rettete: Die Kraft der Besinnung neu zu stimulieren, wo das Salz des Denkens lau geworden ist.
Die Philosophische Praxis kann die Kraft sein, die aus den Fesseln eines bornierten Lebens befreit. Sie richtet sich gegen die Dummheit des Bescheidwissens. Sie ist das Vermögen, mit Unsicherheiten besser leben zu können als mit Sicherheiten, die in Wahrheit keine sind.
Der Wert der Philosophischen Praxis liegt in der Befreiung aus der Knechtschaft von kleinlichen Hoffnungen und Ängsten. Ihr Ziel ist die Lebenskönnerschaft. Dahinter steckt die Einsicht, dass das Leben nicht von selbst gelingt, sondern geführt, bestanden und gemeistert werden muss, wenn es gelingen soll.
Lebenskönnerschaft ist das Verstehen, gut zu leben. Wie ist das zu erreichen? Nicht durch Belehrung oder Besserwisserei, sondern durch Gestalten und Geschichten, Beispiele und Erzählungen. Daraus kann der Sinn für das Individuelle, für das unvergleichlich Richtige erkannt werden – durch Vorbilder: Wir lernen zu leben von denen, die vorzüglich lebten. Diese zeigen uns die Spur der Lebenskönnerschaft.