Der Schlummer des heutigen Menschen

Impuls

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Schon die alten Griechen behaupteten, der Mensch sei das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt. Der Mensch könne sein Leben verfehlen, wenn er nicht an sich arbeite, oder in Sorge um seine Seele sei. Ein gelungenes Leben war, nach dem Meister Sokrates zufolge, ein geprüftes Leben, also eines, das bedacht und entsprechend überdacht werde. Nur ein solches Leben, das sich um den Erwerb von Tugenden, sowie um Vernunft und Weisheit bemühe, sei ein Leben, das Respekt verdiene, und dem wir Achtung zollen könnten. In der Rückschau sprach man vom stolzen Menschenbild der Antike.

Ist es wirklich der Stolz der meisten Menschen, ihr Leben zu führen? Zweifel sind angebracht. Der heutige Mensch glaubt eher, sein Leben gelinge schon von alleine, solange nur alles „normal“ verlaufe. Und wenn es nicht gelingt, dann müsse ihn irgendetwas am Gelingen hindern. Das dürfte die tiefere Bedeutung der rousseauschen Hypothese des „von Natur guten Menschen“ sein. Entdeckt er sich als irgendwie nicht richtig, dann muss er verdorben worden sein. Also begreift er sich als Opfer. Freiheit verwechselt er mit der Befreiung aus den Zwängen, die ihm ein autonomes Leben nicht gestatten. Er sieht sich von sich selbst entfremdet.

Ist einem solchen Menschen zuzumuten, sein Leben selbst zu führen? Wäre es nicht erforderlich, ihn zuerst aus seinem Schlummer aufzuwecken? Der moderne Mensch geht meistens schlafend durchs Leben. In diesem Traumzustand gibt es für ihn kein Hohes, Würdiges, Unbedingtes, Wahres und Gutes. Alles ist für ihn eine Frage von Meinungen, Interessen und Machtverhältnissen. Etwas Ethisches, für das man moralisch belangt, etwas, für das man zur Rechenschaft gezogen werden könnte, existiert nicht. Der im Schlummer befindliche Mensch sucht eher nach Erklärungen für das, was er erlitten hat, anstatt für sich selbst zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen. So ein träumender Mensch bleibt in seiner kleinen, subjektiven Welt eingesperrt.

Als ein in einem solchen Schlummer befindlicher Mensch kann man sich seiner Existenz nicht bewusst sein. Ludwig Binswanger sprach von „Existenzverstiegenheit“ und drückt damit aus, dass man sein eigenes Leben verfehlen könne. Man müsse zu sich selber erwachen, über sich selber aufgeklärt werden. Was übrigens seit Heraklit der Auftrag einer Philosophie ist, die sich verschrieben hat, dem Leben zu dienen. Aufzuwachen hieße auch, mündig zu werden, d.h. Besonnenheit zu kultivieren, klug zu unterscheiden, was wertvoll und was nichtig ist. Es meint die Fähigkeit zu wissen, worauf es ankommt, unser Leben so zu führen, das es sich sehen lassen kann, im strengsten Sinne vor den Augen Gottes. Dazu gehört es auch, sich über seine Wünsche und Bedürfnisse aufzuklären. Nicht alle Wünsche sollten dem Menschen erfüllt werden. Wer aus seinem Schlummer erwachen will, muss sich selbst verständlich werden. Das noch nicht Begriffene, Gesehene, das noch Ungewusste gilt es, zu verstehen. Ein Aufmerksamwerden auf alternative existentielle Möglichkeiten. Alternativen zu bedenken, das was besser wäre, angemessener,  besonnener, vollkommener, in jedem Fall klüger, in letztem, höchstem Sinne: weiser.

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