Der "psy­cho­lo­gi­sche Schlummer" des modernen Menschen

Impuls

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Schon in der Antike wurde von den alten Griechen der Grundsatz entwickelt, der Mensch sei das Wesen, das nicht einfach lebt, sondern sein Leben führt. Ohne Arbeit an sich selbst, ohne Sorge um die Seele, müsse das Leben scheitern oder zumindest weit unter seinen Möglichkeiten bleiben. Das gelungene Leben, so schon der Meister Sokrates, wäre das Ergebnis vernunftgemäßer Lebensführung. Aber hat der heutige Mensch für dieses stolze Menschenbild der Antike noch ein Ohr? Ist es möglich, ihn wachzurütteln, wie Sokrates dies noch tat, um ihn zur Besinnung zu bringen, damit sein Stolz erwacht, und sie beginnt, sein Leben zu bedenken und schließlich zu führen?

Nach der Antike sah sich im aufkommenden Christentum der Mensch bis hin zur Neuzeit als ein geführtes Kind des Himmels. Er sah sich unter der Gnade des Himmels. Mit dem Anbruch der Moderne gilt das alles nicht mehr: Weder sieht sich der Mensch als das Resultat der selbstverantwortlichen Lebensführung, noch weiß er sich von einem gütigen und barmherzigen Gott geführt. Vielmehr findet er sich als das Resultat vor, das Umstände aus ihm gemodelt haben. Die Geschichte der unendlichen Neugier des modernen Menschen auf sich selbst beginnt, von Peter Sloterdijk auch die „Wer-bin-ich-Neurose“ genannt. Es entsteht die Idee, das Leben, solange es nur ungestört und „normal“ verlaufe, gelinge von allein. Freiheit wird mit Befreiung von Zwängen verwechselt, die ihm ein autonomes Leben nicht gestatten. Während der antike, stolze Mensch sich selbst ermahnte, der Fromme demütig im Beichtstuhl kniete, liegt der moderne Mensch bei den Therapeuten auf der Couch. Da wird dann beispielsweise gefragt: „Warum bloß bin ich so? Woher kommt das, dass ich immer wieder dieselben Fehler mache? Das muss doch alles eine Ursache haben! Es muss doch einen Grund dafür geben, dass ausgerechnet ich immer wieder denselben Unsinn mache! Ich frage mich, was mit mir los ist…“ Ist einem Menschen, der so ständig seinen eigenen Emotionen auf der Lauer liegt, der „seine Seele angräbt“ (Nietzsche), zuzumuten, sein Leben zu formen und zu führen? Müsste er nicht zuerst aus seinem Schlummer erwachen? Der Mensch ist im Fahrwasser Jean-Jacques Rousseaus  - sei es auch als Dilettant – sein eigener Psychologe geworden, der sich auf die Schliche zu kommen, „hinter sich selbst zu kommen“, trachtet – anstatt „für sich gerade zu stehen.“ Mit anderen Worten: Das tätige, handelnde, ausführende Ich schläft und schlummert, d.h. das ethische, das moralische, das rechenschaftsfähige Subjekt. Wonach wird im psychologischen Schlummer gerade nicht gefragt? Nach allem, worauf es eigentlich und letztlich ankommt. Nicht wird gefragt, was unsere Zustimmung verdient, was unseren Respekt erfordert, was wahrhaft gut ist – und nicht nur „gut bekommt.“ Nicht gefragt wird nach einem Sinn, den wir unserem Leben nicht etwa nur zu „geben“, sondern den wir zu erfüllen, dem wir gerecht zu werden, zu entsprechen haben.

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