Verstehen und ver­stan­den werden

Impuls

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Die Philosophische Lebensberatung folgt dem Grundsatz, den Menschen, der sich anvertraut, als den besonderen und einzigartigen, als diesen einen, der er ist, so innerlich und vielfältig wie möglich zu verstehen. Wer in die Philosophische Praxis kommt, möchte verstanden werden. Was heißt das? Sollte dies so schwer sein, dass es eigens betont werden muss? Ich denke, dass es sich dabei um eine regelmäßige Überforderung handelt, der man nur ausnahmsweise und in Grenzen  gerecht werden kann. Den anderen verstehen beginnt man erst, wenn man versteht, wie der andere versteht, und das, was er uns zu verstehen geben möchte, ahnungsweise versteht, wie er.

Der Philosophische Praktiker hat sich im Laufe seines lebenslangen Studiums der Werke mit differenten Weisen des Verstehens eingehend vertraut gemacht. Form und Art des Denkens haben sich für ihn vervielfacht. Verstehen verlangt unzeitgemäßes Denken, das sich einerseits gegen den Gesinnungsterror der Gegenwart wendet, andererseits einen Blick hat für die Tiefe des bereits Gedachten.

Ein strenges Verstehen im Gespräch verlangt ein Doppeltes: Sich selbst an den andern zu verlieren, und sich darüber doch zugleich nicht selber zu vergessen. Man versteht den anderen nicht allein als Fachmensch oder Spezialist, sondern mit sich selbst, also den Menschen durch den Menschen. Weshalb der Philosoph, zumindest der Philosophische Praktiker, als Menschenwissenschaftler bezeichnet werden kann.

Verstehen kann nicht heißen, den Anderen total zu enträtseln. Das Höchste, was man im Prozess des Verstehens erreichen kann ist das „Vertraut-Werden in der Distanz.“ (Helmut Plessner). Verstehen  heißt, den Anderen sehen in und mit seiner unverwechselbaren Lebensgeschichte. Die eigene Geschichte muss gewissermaßen beim Gesprächspartner „untergebracht“ werden können, damit man sich verstanden fühlt. Sich dem Besonderen und der konkreten Situation des Menschen zuwenden erkennt die Andersheit des Anderen an. Verstehen meint immer das Besondere und keine gesetzmäßige Erklärung.

Verstehen nimmt den anderen Menschen ernst und tastet sich an das Übersehene und Ungesehene heran. So können neue Perspektiven eingebracht und andere Sichtweisen ermöglicht werden. Das geht nur Zug um Zug und braucht Zeit. Philosophisches Nachdenken ist darum eines, das sich Zeit nimmt.

Dem Verstehenprozess muss Raum und Zeit gegeben werden. Er benötigt eine Atmosphäre der Ruhe und Freiheit von Druck und Erfolgsgarantie. Ruhiges Verweilen beim Anderen und dem Gedanken, der gerade gedacht wird, bringt erst Festgefahrenes in Bewegung. Zum Verstehen gehört Geduld.

Wer den Anderen verstehen will, muss sich einlassen, dem anderen aussetzen. Dadurch kann der eigene Horizont erweitert und realisiert werden, dass auch anders gedacht und gefühlt werden kann. Verstehen bedeutet gegenseitige Annäherung, man nimmt an etwas teil, das weder man selbst noch der andere in sich hat. In der Philosophischen Praxis ist der Blick auf das Wohin, auf die Möglichkeiten eines Menschen gerichtet. Verstehen und verstanden werden ist eine tiefe Sehnsucht des Menschen. Es überwindet Fremdheit und hat eine heilsame Kraft.

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