Die Moderne steckt nicht in der Krise, sie ist die Krise
Impuls
In seinem berühmtesten Werk „Kritik und Krise (1959), eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt“, zeigt sich der 2006 verstorbene Reinhart Koselleck als denkender Historiker. Kosselleck wurde mit dem Begriff der „Sattelzeit“ populär. Diese besagt, dass um die Zeit 1770 die Moderne in den Sattel gesetzt wurde. Der Begriff trennt am deutlichsten die Vormoderne von der Moderne. Die gesamte Politik und Gesellschaft wurde einem Bedeutungswandel unterzogen. Etwas ganz Neuartiges, Dynamischeres, von den Menschen selbst zu Gestaltendes hatte begonnen. Mit der Sattelzeit löste die Moderne die Vormoderne ab. Der Bedeutungswandel zeigte sich beispielsweise in der These der Singularisierung. Die Geschichte tritt an die Stelle von Geschichten, die Freiheit, die Pflicht, das Recht, an die Stelle von Freiheiten, Pflichten und Rechten. Für Koselleck wurde die Frage nach der Herrschaft zentral. Die französische Revolution hatte die Monarchie hinweggefegt, die Herrschaft anonymisierte sich in Form des Staates, des Rechtes, der Moral, des Volkes, und der Wirtschaft. Nach dem Sturz der Monarchie wurde die Frage „Wer herrscht?“ zur Krisenfrage der Moderne. Zur Krise formulierte Koselleck seinen zentralen Satz: „Die moderne Welt gerät nicht in die Krise, sie ist die Krise.“ Die Moderne ist keine Aneinanderreihung von Krisen, die Krise nagt immer schon an allen Überzeugungen. Alle Selbstverständlichkeiten werden aufgelöst. Nichts ist oder bleibt stimmig, zweifelfrei, nichts steht mehr in Geltung und genießt die Achtung aller. Nicht da und dort bricht eine Krise aus, im Grund steht alles auf der Kippe. In der Moderne steht die Zukunft in den Sternen, die sich in Schweigen hüllen.
Warum ist das so? Wir haben nichts, was nicht in der Krise steckt, weil wir nichts haben, was nicht kritisiert wird: „Die Kritik ist der Vorbote der Krise.“ Mit Kritik kann keine Krise verändert werden. Krise und Kritik haben die gleichen etymologischen Wurzeln. In der Krise zeigt es sich, um was es wirklich geht, egal ob in der großen Politik, oder in den Beziehungen. In der Krise zeigt sich der Charakter.
In der Moderne beerbt das geschichtliche Denken theologische Kategorien. Ehemals Theologisches wird säkularisiert. Das jüngste Gericht wird zur Revolution, die endgültig die gerechte oder klassenlose Gesellschaft schaffen soll. Theologische Begriffe wurden in der Moderne historisiert. Für Schiller war die Weltgeschichte das Weltgericht. Die Geschichte selbst, und kein Gott, urteilen mehr über die Geschichte.
Mit der Moderne wird die Krise inflationär: Das Zeitalter der Krise. Die Krise als Dauererscheinung wird nirgendwo so deutlich wie in der Wirtschaft, die modernste aller anonymen Mächte: „Die Wirtschaftskrisen sind nicht bloß zeitweilig auftretende Phänomene, sondern sie stellen die Produktionsbedingungen auf eine andere Basis. Die „schöpferische Zerstörung“ (Schumpeter) wird zum notwendigen Faktum. Wir brauchen die dauernde Krise, damit es wieder aufwärts geht. Erst die auf Dauer gestellt Krise bringt die Dauerinnovationen, die eine moderne Wirtschaft braucht.“ (Koselleck). Vielleicht kann man die Krise nur noch theologisch verstehen….