Le­ben­dig­keit und Gegenwart der Mythen – oder: Die Götter und der Gott

Impuls

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Auch wenn es vergessen scheint: Neben der Bibel und dem Christentum ist die antike griechische Mythologie der entscheidende Ausgangspunkt für die Entwicklung der europäischen Kultur. Aber auch Mythen und Religionen unterliegen dem Verfall, wobei Götter und Mythen nicht sterben, sie wandeln nur ihre Gestalt. Sie sind wie ein Baum, der im Winter die Blätter verliert, die im Frühling wieder neu wachsen. Ihre Urbilder bleiben erhalten. Hans Blumenberg, meinte in seiner umfangreichen Studie „Arbeit am Mythos“, der Mythos sei nichts Abgelegtes oder Erledigtes. Jeder Mythos ist immer schon gewesen und wirkt bis in die Gegenwart.

Auch Götter verwesen, auch wenn ihre Urbilder weiterwirken. So erging es dem griechischen Götterhimmel. Für die Griechen war alles von Göttern durchdrungen. So soll Thales von Milet gesagt haben: „Alles ist voll von Göttern.“

Den Griechen war alles heilig, alles hatte seine Bedeutung, seinen Sinn, seinen Bezug. Darin liegt der fundamentale Unterschied zu unserer christlich geprägten Welterfahrung. Das Christentum hat die Welt konsequent entheiligt, weil nichts heilig ist, außer dem einen Gott, und der ist nicht von dieser Welt (Klaus Held). Auch die anderen monotheistischen Religionen betrieben die Säkularisierung der Welt, indem sie das Heilige auf den einen Gott konzentrierte.

Die Jenseitsreligionen entheiligten die Welt. Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass der Polytheismus gegenüber dem Monotheismus geistig noch auf einer primitiven Entwicklungsstufe steht. Er sei eine „abgelegte Wahnvorstellung in der Menschheitsgeschichte und sei „für einen aufgeklärten Menschen des 21. Jahrhunderts nur noch von historischem Interesse.“ (Klaus Held).

Die Griechen glaubten nicht an ihre Götter, für sie war die Existenz der Götter eine Selbstverständlichkeit. Man diskutierte darüber, ob die Vorstellung über sie richtig sei, oder ob sie richtig verehrt würden, aber nicht darüber, ob es sie gibt.

Alles konnte als etwas Göttliches erscheinen. Wenn ein Mensch von einer leidenschaftlichen Liebe erfasst wurde, dann steckte Aphrodite, die Göttin der Liebe dahinter. Wenn ein verheerender Krieg tobte, dann hatte der Kriegsgott Ares seine Hände im Spiel. Göttergestalten erklärten also ein Geschehen, während wir heute dafür unsere Theorien haben. Beispielsweise stehen heute hinter der Liebe nicht mehr Aphrodite, sondern Hormone, Enzyme und Fermente.

Gott ist für die Griechen ein prädikativer Begriff, er kann als die Liebe, der Zorn, das Erhabene, die Leidenschaft erscheinen. Die Götter sind Mächte, die den Menschen führen, verführen und verwirren. Im Übermächtigen, in der rasenden Verliebtheit, im staunenswert Schönen, in der ekstatischen Wildheit, im siegreichen Vollbringen, im Ehrfurcht Hervorrufenden, im Furchtbaren, Entsetzlichen, begegnet der Mensch immer wieder Gott. Mit den Göttern konnte der Mensch eine lebendige Erfahrung des Vielgestaltigen machen, gleich einer Symphonie, wo alle gegensätzlichen Töne und Harmonien vorkommen. Im Zusammenklang ergab sich das Göttliche. In diesem Götterhimmel herrschte Zeus als oberster Gott, der aber kein eifersüchtiger, eifernder Gott war, sondern alle anderen Götter neben sich leben ließ. Die Götter Griechenlands verlangten auch keinen Gehorsam oder blinden Glauben, sie waren keine Gesetzgeber, sondern leuchtende Ideale für das, was möglich ist.  Sie zeigten den Reichtum des Seins. Darin bestand das Bewusstsein der Griechen.

Ihre Gottesverehrung war nicht auf Macht und Strafe gegründet, sondern darauf, dass sie existierten. Es war eine Gottesverehrung von freien Menschen, die keine Erwartungen hatten, die nicht ihre Sorgen und Wünsche darbrachten. Es war eine Verehrung ohne Eigennutz.

Von diesen Göttern kann man Geschichten erzählen. Diese Geschichten nannten die Griechen Mythen. Mythos heißt Geschichte. Mit dem Mythos kannte der Mensch darstellen, wenn eine überwältigende Erfahrung eines Gottes seinem Leben eine andere Wendung gab. Die Verschiedenheit des Unverfügbar-Übermächtigen führte zu den verschiedenen Göttergestalten, von denen die Mythen berichten.

Wie konnte diese Erfahrung der Vielfalt des Göttlichen verloren gehen? Der Verlust wurde von den Griechen selbst vorbereitet. Durch die Entstehung der Philosophie und Wissenschaft setzte eine frühe Aufklärung ein. Der Einwand des Anthropomorphismus kam auf, weil das übermächtige Leben der Götter nicht abgelöst vom sterblichen Menschen bestand, und die Götter daher nur in Menschengestalt dargestellt wurden. Die Menschengestalt der Götter bedeutete gleichzeitig eine Erhöhung (Vergottung des Menschen). Ein zweiter Einwand bezog sich auf die Amoralität der Götter. Die Götter Griechenlands waren zweideutig und doppeldeutig. Jeder Gott hatte neben seiner Strahlkraft auch seine dunkle, unberechenbare Kehrseite. Aber ein vollkommener Gott kann nicht moralisch zweideutig sein. Damit aber war der Weg zum Monotheismus eingeschlagen. Der griechische Geist war dafür reif geworden.

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