Verzeihen und Versöhnen

Impuls

3 min lesen

„Wer keine Ähnlichkeit zwischen sich und dem anderen erkennt, wer nur das Fremde und Böse und nicht das Eigene sieht, der sei dazu verurteilt, es dem Feinde gleich zu tun. Nur wenn wir das Böse als Teil unserer selbst anerkennen können, wir also eingestehen, dass wir dem Feinde gewissermaßen ähnlich sind, unterscheiden wir uns von ihm. Halte ich mich für anders, bin ich vom gleichen Schlag. Halte ich mich für gleich, bin ich anders.“ (Todorov)

Das ideale Menschenbild des modernen Menschen präsentiert sich schuldfrei, leidensfrei und vergebungsfrei. Wissenschaft, Rationalität und Aufklärung haben für die Illusion gesorgt, dass alles machbar ist und alles verstanden werden kann. Aber wir begehen Schuld oder fühlen uns schuldig, leiden und hoffen auf Verzeihung. Wir brauchen eine Veränderung der Situation und von uns selber. Vernunft allein kann aber das Leben nicht verwandeln. Erst Verzeihung zieht einen Schlussstrich hinter das Vergangene, weist nach vorne, schenkt Zukunft. Ein Neuanfang wird möglich.

Warum brauchen wir Verzeihung? Verzeihung setzt Schuld voraus, also unsere Freiheit. Wir sind niemals vollkommen, bleiben uns und den anderen immer etwas schuldig. Daher brauchen wir Hilfe von außen. Wenn der andere uns erlaubt uns neu zu definieren, dann verzeiht er uns. Verzeihung muss erbeten werden. Der Schuldige hat keinen Anspruch auf Verzeihung, er kann sie nur erbitten, aber der Gläubiger hat eine gewisse Pflicht, dieser Bitte zu entsprechen. Der Verzeihende gibt damit dem anderen die Möglichkeit, sich anders zu sehen und in Zukunft anders zu handeln.

Wir bleiben als endliche Wesen immer hinter unseren Möglichkeiten zurück, deshalb bedürfen wir der Verzeihung, der Nachsicht. In der Versöhnung schließlich kommt die Verzeihung an ihr Ziel. Versöhnung stellt die Gleichheit wechselseitiger Anerkennung wieder her.

Im Lukas-Evangelium stehen folgende Worte, die Jesus am Kreuz gesprochen haben soll: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dieses Lukas-Wort bricht mit der gesamten jüdischen Tradition. Es ist aus griechischem Geist. Für Sokrates tut niemand in bewusster Absicht das Böse. Die Menschen handeln aus Unwissenheit. Das sollte es leichter machen, zu vergeben. Die Tatsache, dass wir sind, wie wir sind, ruft die Verzeihung auf den Plan, denn wir sind immer auch dafür verantwortlich, dass wir sind, wie wir sind. Durch die Verzeihung erlauben wir dem anderen, sich von seinem Handeln oder Unterlassen zu distanzieren.  Wir sind nie ganz so, wie wir handeln. Wir können aber etwas in neuer Perspektive sehen. Schuld als Schuld zu übernehmen und zugleich sie überwinden, kann niemand alleine. Er bedarf eines verzeihenden Gegenübers. Der Schuldige ist angewiesen auf Verzeihung. Wirkliche Verzeihung hat den Charakter der Wiederherstellung.

Wir sind alle auf das Verzeihen angewiesen. Wer verzeiht, hat auch in sich selber entdeckt, was er verzeiht. „Ich hätte es ebenso tun können.“

Gibt es eine Begrenzung des Verzeihens? Gibt es Unverzeihliches? Laut Derrida ist der eigentliche Gradmesser des Verzeihens, das Unverzeihliche verzeihen zu können. Sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit unverzeihlich? Muss das Verzeihen in den Todeslagern selbst sterben? Wann beginnt das Unverzeihliche?

Für das Verzeihen gibt es keine Begrenzung. Nichts kann mich hindern zu verzeihen. Das behauptete die Jüdin Eva Moses Kor, die Auschwitz überlebt hat: „Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben. Das Vergeben hilft den Opfern, nicht den Tätern.“ Die Jüdin Moses Kor hat durch die Vergebung zu ihrer eigenen Macht zurückgefunden. Wenn nicht verziehen wird, dann bleibt der Hass und Groll in mir sitzen. Durch Verzeihen wird das Geschehene nicht ungeschehen, aber der Hass macht das Geschehen auch nicht ungeschehen. Für Derrida ist Verzeihung „Erprobung des Unmöglichen“, das den gewöhnlichen Lauf der Geschichte unterbricht, das „Wunden heilen lässt, ohne dass Narben bleiben.“ (Hegel). Der Holocaust stößt die tiefsten Fragen des Verzeihens an. Das Verzeihen ist in den Todeslagern gestorben, aber gerade dort ist auch das Unmögliche möglich geworden. Das eigentliche Vergeben ist Wahnsinn oder verrückt, oder heilig, denn es durchbricht das berechnende Kalkül. Es ist das reinste Wunder und macht erst einen Neuanfang möglich. Nelson Mandela und Desmond Tutu mit ihrer Versöhnungskommission sind ein Beispiel dafür.

Der bulgarische Philosoph Todorow schrieb: „Ich kann mich entscheiden, nicht zu verzeihen. Wenn ich es aber tue, dann gilt der Grundsatz, den anderen als gleichwertig anzuerkennen. Selbst Menschen die dem nationalsozialistischen Terror ausgesetzt waren, denen grausamste Verletzungen zugefügt wurden, waren in der Lage, diesen Schritt zu gehen.“

Verzeihen ohne Überlegenheitsattitüde braucht den tiefen Sinn von Verstehen. Nur wer in sich selber entdeckt, was er verzeiht, wer denkt, ich hätte es ebenso tun können, kann der Gefahr sich im Verzeihen erhaben zu dünken, entgehen.

Verzeihen geht über alle Moralität hinaus, es hat religiösen Charakter. Es ist mit dem Christentum in die Welt gekommen. Letztendlich geht es um Versöhnung. Der andere ist unser als gleichwertig anzuerkennender Mitmensch.

Your browser is out of date!

Update your browser to view this website correctly. Update my browser now